Deutschland – VG Regensburg, Beschluss v. 9. Januar 2019 – RN 6 S 18.50495

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
09-01-2019
Citation:
RN 6 S 18.50495
Court Name:
Verwaltungsgericht Regensburg
National / Other Legislative Provisions:
Germany - Section 11
50
59
60 Act on the Residence (Aufenthaltsgesetz – AufenthG)
Germany – Section 10
34a
29 Asylum Act (Asylgesetz - AsylG)
Germany - Section 80 Code of Administrative Court Procedure (Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO)
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Headnote: 

Die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) setzt die Flucht des Asylbewerbers voraus, die die überstellende Behörde nachweisen muss.

Flucht liegt nur vor, wenn der Asylbewerber während eines (nicht definierten) längeren Zeitraums für die zuständigen Behörden nicht erreichbar ist. Die Absicht, sich den Behörden zu entziehen, muss nicht nachgewiesen werden. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles.

Facts: 

Der Antragssteller ist Staatsangehöriger Sierra Leones und war am 2.2.2017 in Deutschland eingereist. Im Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates am 13.2.2017 hatte der Antragssteller angegeben, er sei über Libyen nach Italien gekommen. Eine EURODAC-Anfrage ergab für Italien einen Treffer. Sodann richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend nur Bundesamt) am 5.4.2017 ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden. Nachdem aufgrund einer HIV-Erkrankung des Antragstellers Feststellungen zur Zulässigkeit einer Abschiebung nach Italien getroffen wurden, wurde der Asylantrag des Antragsstellers am 12.10.2017 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet. Die Zustellung des Bescheids erfolgte am 18.10.2017. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen diese Abschiebung gerichteten, am 20.10.2017 erhobenen Klage, wurde mit Beschluss vom 7.12.2017 abgelehnt.

Das Bundesamt teilte mit Schreiben vom 4.5.2018 dem italienischen Innenministerium mit, die Überstellungfrist verlängere sich bis zum 7.6.2019, weil der Antragsteller flüchtig sei. Eine Rücküberstellung war laut der zuständigen Polizeiinspektion am 23.4.2018 gescheitert, weil der Antragsteller am selben Tag um 7.30 Uhr nicht angetroffen worden sei. Auch am 3.5.2018 sei der Antragsteller nicht in seiner Unterkunft angetroffen worden. Laut den dort anwesenden Personen sei er nur unregelmäßig und oft mehrere Tage nicht in der Unterkunft. Das zuständige Landratsamt bestätigte am 6.5.2018, dass der Antragsteller sich seit ca. zwei Wochen nicht mehr in der Unterkunft aufhalte und auch am 20.4.2018 weder durch die Polizeiinspektion noch durch das Landratsamt habe angetroffen werden können. Der Antragssteller beantragte am 13.7.2018 nunmehr unter Abänderung dieses Beschlusses die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Zur Begründung führte der Antragsteller an, die Überstellungsfrist sei am 7.6.2018 nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO abgelaufen, da die Abschiebung seit Erlass des Beschlusses vom 7.12.2017 möglich gewesen und der Antragsteller nicht flüchtig gewesen sei. 

Decision & Reasoning: 

Das Gericht befasste sich allein mit der Frage, ob der Antragssteller „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO gewesen ist und somit an die Stelle der sechsmonatigen Überstellungsfrist, welche ab der Entscheidung vom 7.12.2017 zu laufen begann, eine Frist von achtzehn Monaten trat. Das Gericht verneinte dies und schloss sich bezüglich der strittigen Definition von „flüchtig“ den Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Vorlagebeschluss an den EuGH vom 15.3.2017 – A 11 S 2151/16 – Rn. 20) an: Nach Art. 2 lit. n) Dublin III-VO (Definition der Fluchtgefahr) müsse ein „Entziehen“ durch Flucht festgestellt werden. Strittig sei insoweit, ob dem Begriff „flüchtig“ in Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO somit ein Element des Planvollen, und Vorsätzlichen bzw. Bewussten innewohne. Dann liege diese Tatbestandsvoraussetzung nicht bereits dann vor, wenn der Betreffende nicht anwesend sei. Aus einer rechtsvergleichenden Auslegung des Wortlautes von französischer, englischer und deutscher Textfassung ergebe sich diese Feststellung jedoch nicht zwingend. Auch aus der Normgenese könne ein solches Erfordernis nicht abgeleitet werden. Zum Sinn und Zweck wurde angeführt, es handele sich nicht um eine Sanktionierung des Verhaltens des Betreffenden, sondern Sinn und Zweck der Norm sei es, dass „effektive Funktionieren“ des Dublin-Systems zu sichern. Dieser Zweck sei gefährdet, wenn die Überstellungen nicht zeitnah erfolgen würden. Weiter bestünden Beweisschwierigkeiten, wenn den Betroffenen nachgewiesen werden müsste, dass sie sich von ihrer Wohnung entfernt haben, um der Überstellung zu entgehen. Aus diesen Gründen werde ein planvolles Element nicht verlangt.

Es sei erforderlich, dass der Asylbewerber über einen längeren Zeitraum für die maßgeblichen Behörden nicht erreichbar war. Für die Feststellung wann ein längerer Zeitraum vorliege, sei auf die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls abzustellen. Zumindest sehe, laut dem VG Regensburg, der Gesetzgeber aufgrund eines Rückschlusses aus der Meldepflicht bei Wohnungswechsel gemäß § 50 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), drei Tage als zu kurz an. Die Frage der genauen Dauer konnte das Gericht jedoch offenlassen, denn:

Unabhängig davon, sei vorliegend eine Flucht dem Antragsteller nicht nachgewiesen. Die Behörde habe keine ausreichenden Feststellungen darüber getroffen warum der Antragsteller beim Versuch der Abschiebung am 23.4.2018 nicht angetroffen worden sei. Auch sei nicht erkennbar gewesen worauf die Feststellungen in der Mitteilung des Landratsamts vom 6.5.2018 beruhten, dass der Antragsteller sich seit zwei Wochen nicht mehr in der Unterkunft aufhalte. Bestehe der begründete Verdacht, dass ein Asylbewerber flüchtig sei, müssten entsprechende Feststellungen getroffen werden. Wenn Maßnahmen nicht ergriffen würden, gingen Zweifel an der Flucht eines Asylbewerbers zulasten des sich auf die Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO berufenden Bundesamts.

Outcome: 

Antrag stattgegeben; Abänderung des Beschlusses vom 7.12.2107; Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.

Observations/Comments: 

Am 19.03.2019 erließ der EuGH in der Rechtsache C-163/17 das Urteil zu dem in der Zusammenfassung angesprochenen Vorlagebeschluss des VGH Baden-Württemberg. In seinem Urteil behandelt der EuGH zahlreiche weitere Rechtsfragen von aktueller Relevanz. Allerdings äußerte er sich nicht dazu, wie lange der Schutzsuchende sich von seiner Wohnung unabgemeldet entfernt haben muss. Generalanwalt Wathelet sprach in seiner Stellungnahme noch von einem längeren Zeitraum. In der Entscheidung des EuGH findet sich diese Begrifflichkeit nicht wieder.

Diese Zusammenfassung wurde von Andreas Janßen erstellt, stud. iur. Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln.

Other sources cited: 

Zitierte Rechtsprechung des Mitgliedsstaats

VG Regensburg, B. v. 7.12.2017 Az. RN6S1752188 RN 6 S 17.52188;

VG Bayreuth, Urt. v. 23.10.2017 Az. B 3 K 17.50068;

VGH Baden-Württemberg, B. v. 15.3.2017 - A 11 S 2151/16;

BayVGH, B. v. 17.8.2018